Der Klub, der im deutschen Fußball der Frauen aktuell vielleicht die meisten Träume auslöst, ist ein Regionalligist. Viktoria 89, dessen Männer als ewige graue Maus durch die Hauptstadt dümpeln, hat seine Frauenabteilung sechs Gesellschafterinnen übergeben, die Großes damit vorhaben: In fünf Jahren in die Bundesliga. Prominente Frauen, denen es um Frauenförderung geht, wie beim Angel City FC in Hollywood. Ariane Hingst etwa, hinzugestoßen sind Franziska van Almsick oder Dunja Hayali. Mehr Geld, mehr Sichtbarkeit, mehr Gleichberechtigung, mehr Unabhängigkeit von Männern: Das also ist es, was die Deutschen für Revolution halten. Der Frauenfußball erlebt aktuell tatsächlich eine Zeitenwende. Das Finale der EM sahen in Deutschland mehr Zuschauer:innen als das Männer-WM-Finale mit Lionel Messi. Highlight-Spiele brachten fünfstellige Besuchszahlen in der Bundesliga; Italien und Spanien haben erstmals eine Profiliga. Frauenfußball wird ein bisschen Mainstream.
Weg von der Welt biederer alter Herren in Provinzklubs, hin zu ein paar liberalfeministischen Kollektiven wie Viktoria oder Strategien aus den Chefetagen der Männergroßklubs. Mehr Ultras, weniger Kita-Publikum. Ist das eine Utopie? Seit Jahrzehnten kennt der Fußball der Frauen nur ein Ziel: Den Fußball der Männer. Immer versehen mit dem Hinweis, man wolle es ja nicht ganz so krass haben: Also keine Millionengehälter, nicht so vorhersehbare Meisterschaften. Aber natürlich ist das Unsinn. Wer einen Fußball baut, der auf denselben Prinzipien fußt (Finanzierung durch Sponsoren und TV-Gelder, eine westeuropäisch dominierte Champions League neben einer Meisterschaft, Punkte ausschließlich für sportliche Dominanz), und wer diesen Fußball auch noch durch dieselben Klubs spielen lässt und im selben Wirtschaftssystem, der bekommt dasselbe Ergebnis. Frauenfußball ist Männerfußball, nur in ärmer. Und Frauen werden in diesem Fußball Gleichberechtigung niemals erreichen.
»Die Welt der Utopien ist gestorben«, hat der ehemalige argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti mal gesagt. »In der Dritten Welt stiehlt man den Menschen das Brot, in den Industrienationen stiehlt man ihnen die Träume.« Wir sind im Kapitalismus von der Alternativlosigkeit so überzeugt, dass wir nichts mehr wagen. Nicht mal das Nachdenken. Der aktuelle Fußball ist gescheitert, er funktioniert systemisch nicht. Aber dieses Scheitern haben die meisten noch gar nicht verstanden. Welcher Mensch bei Verstand würde den aktuellen Fußball einführen wollen? Lasst uns einen Fußball einführen, der Unmengen gesellschaftlicher Mittel nutzlos in die Taschen einiger weniger privatisiert. Einen Fußball, der jedem Verbrecherkonzern eine Bühne bietet, der Autokratie belohnt und demokratische Klubs bestraft. Wo unter ein Prozent der Profis Frauen sind, der Gender-Pay-Gap größer ist als in jedem anderen Beruf, die Meisterinnen am ersten Spieltag feststehen und nicht gute Arbeit belohnt wird, sondern die richtigen Sponsoren. Wo eine Luxusyacht mehr CO2 ausstößt als 1400 Menschen im Jahr und die ganze Welt neokolonial ein paar europäische Länder mit menschlichem Material beliefert. Wer würde dafür stimmen?
Der Frauenfußball muss begreifen, welche Gefahr von diesem autoritären, ungleichen, gewalttätigen Fußball ausgeht. Wir alle wachsen darin auf und werden davon geprägt, es sind unsere Mittel, die darin versinken. Warum ist er nicht mindestens demokratisch, fair, nachhaltig, plural, inklusiv? Denn Fußball und Sport sind nicht demokratisch, das ist ein Märchen. Noch in jedem Provinzklub ist der Sponsor gleichzeitig Präsident, und zunehmend gelangen Klubs in der Hand einzelner reicher Männer. Oder gleich Staatsfonds. Das Prinzip Verein ist übrigens sozial sehr ausschließend, große Teile der Gesellschaft nehmen gar nicht teil. Teams selbst sind autoritär strukturiert: Eine Trainerin gibt Kommandos, ein Verband bestimmt als Monopolist die Regeln, plurale Spielformen gibt es nicht. Und die Gesellschaft hat keinerlei Einfluss auf die Geldverteilung in den Fußball. Das ist ein Fußball des 19. Jahrhunderts. Es ist überfällig, einen Fußball des 21. Jahrhunderts zu schaffen.
Die sogenannte Demokratie braucht, wenn sie nicht zerfallen soll, dringend eine demokratische Wirtschaft. Bislang läuft Wirtschaft auch im Fußball autokratisch; das zersetzt die Gesellschaft und ist zudem völlig ineffizient. Die Gesellschaft ist eigentlich die Arbeitgeberin des Fußballs, sie produziert ihn faktisch. Aber finanziert wird Fußball derzeit von Sponsoren, die gigantische gemeinschaftliche Mittel umverteilen, ohne demokratischen Prozess, wo wie viele Gelder überhaupt sinnvoll sind. Eine Lösung sind Civil Money Councils. Das Prinzip: Die oberen Ligen gehören mehrheitlich der Gesellschaft – nicht den Fans, sondern der Gesamtbevölkerung. Ein Teil der Einnahmen fließt in die Gemeinschaft zurück. Und ein Teil der Finanzierung des Fußballs wird demokratisch bestimmt. Fußball als anständiger Arbeitnehmer muss mit gesellschaftlichen Räten aushandeln, wie viel Geld er bekommt. So entsteht überhaupt erst eine Debatte über Schaden und Nutzen. Und über Sinnhaftigkeit von Mitteln und Ziele der Investition. Wer soll wofür belohnt werden?
Wichtig wäre auch ein Fußball, bei dem Teams und Aktive mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten haben; zum Beispiel mit Spielformen, wo sie selbst einen Teil der Regeln bestimmen, mit Mitsprache bei der Aufstellung. Und perspektivisch gesehen etwa einer Beitragsökonomie. In diesem Konzept sind auch Spieler:innen keine Vollprofis, die fremdbestimmt im Tunnel leben, sondern leisten mehrere gesellschaftliche Beiträge und erobern sich einen Horizont – ohne nach der Karriere in ein Loch zu fallen. Es zählt nicht das Arbeiten, sondern die Folgen der Tätigkeit: Belohnt wird, wer einen guten gesellschaftlichen Beitrag leistet. Auch die Menschen am Ende der (Fußball-)Lieferketten müssen überfällig ein Wahlrecht in dem Staat haben, den sie beliefern. Das untergräbt sehr effektiv die aktuell koloniale Ausbeutung.
Klar ist: Solange wir einen Fußball spielen lassen, bei dem hauptsächlich Geld über Erfolg entscheidet, werden Klubs immer versuchen, mehr Geld zu beschaffen. Obwohl das für die Branche überhaupt nicht nötig ist. Wer einen klügeren Fußball will, muss also klügere Ziele setzen. Die aktuelle Tabelle belohnt nicht die beste Leistung – sie belohnt Standortvorteile. Und das soll Leistungsfußball sein? Wenn wir schon Leistung belohnen möchten, muss sie in Relation zu den Möglichkeiten bewertet werden. Wenn der SV Meppen Bundesliga spielt, hat er eine wesentlich größere Leistung erzielt als Bayern München. Gewinnt er gegen einen Klub mit höherem Budget, muss er dafür auch mehr Punkte erhalten. Und warum überhaupt geht es im Fußball nur um Dominanz? Das war nicht immer so. Es ist ein Ergebnis des von Männern entwickelten Fußballs des 19. Jahrhunderts. Ein feministischer Fußball kann einen kreativeren Fußball zurückerobern, als Kunst und Freiheit.
Denn im aktuellen Pyramidensystem werden Klubs sich niemals solidarischer verhalten. Es braucht den Mut, auch Wettbewerbsstrukturen zu überdenken. Zum Beispiel mit Galaxien statt eines Pyramidensystems. Das gibt Raum für ganz neue Fußballformen. Fußball etwa als Musical oder als Theater, als Kooperationsspiel oder mit drei Teams gegeneinander, als Blödelei mit selbst entwickeltem Ziel oder als Zehnkampf, wo von Tischkicker bis Jonglage verschiedene Fähigkeiten zählen. Erst die Verbände haben die Kreativität des Fußballs eingezwängt. Befreien wir ihn wieder. Das bietet die Chance, viele Menschen anzusprechen, die sich mit dem aktuellen Fußball nicht identifizieren. Und die Tabelle? Eine Tabelle sagt viel darüber, was der Gesellschaft als gute Leistung gilt. Das Rattenrennen um mehr Geld endet erst, wenn wir anders bepunkten. Mit Punkten für Nachhaltigkeit, für sorgfältige Frauen- und Mädchenarbeit, viel Breitensport, soziales Engagement oder Sparsamkeit. Damit der Verein mit der wirklich besten Gesamtleistung Meisterin wird. Und nicht der reichste.
Ein besserer Fußball entsteht innerhalb und außerhalb der Branche. Politik muss es wagen, viel gestaltender in den Fußball einzugreifen. Und die umliegende Wirtschaft transformieren. Mit festen Emissionsobergrenzen etwa, in die auch die Produktion und die Folgen des Betriebs hineinzählen. Mit einer viel klügeren Bepreisung: Teuer ist, was viel Schaden erzeugt und viele Ressourcen verschwendet, günstig ist, was nachhaltig ist. Mit anderen Belohnungsformen statt Konsum. Und zuletzt: Es ist überfällig, einen inklusiveren Fußball zu schaffen. Selbstverständlich einen, wo Männern und Frauen vertraglich gleiche Budgets zustehen, aber auch einen mit viel mehr klugen mixed-Optionen. Über Jahrhunderte wurde Fußball sehr selbstverständlich all gender gespielt. Und warum nicht eine Tabelle, in die alles zusammen hineinzählt: Die ersten Herren, die ersten Frauen und das mixed-Team. Eine einseitige Förderung der Männer lohnt sich dann nicht mehr. Und längst gibt es viele gute Formate, in denen Menschen verschiedener Fähigkeiten zusammenspielen können. Der aktuelle Fußball misst all dem keinen Wert zu. Viele ahnen nicht, was der Fußball verpasst.
Es wird Zeit, dass wir Utopie als das verstehen, was sie ist: Die Möglichkeit, Dinge ehrlich besser zu machen. Das sind wir dem Frauenfußball und uns selbst schuldig.