In den letzten Jahren findet die Problematik von Sexismus und sexualisierter Gewalt immer mehr Beachtung und wird in der Gesellschaft zunehmend ernst genommen. Nicht nur Kampagnen wie #MeToo trugen ihren Teil dazu bei. Auch Frauen im Fußball stehen medial mehr im Fokus. So befasst sich zum Beispiel seit einigen Jahren das Projekt »Fan.Tastic Females« mit Frauen im Fußball und beleuchtet deren Rolle in der Subkultur genauer.
Anfang 2019 gründete eine Gruppe aktiver weiblicher Fußballfans verschiedener Vereine das Netzwerk gegen Sexismus und Sexualisierte Gewalt. In Zusammenarbeit mit dem Verein Unsere Kurve, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte, dem Netzwerk F_In – Frauen im Fußball, der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) und KickIn! erstellten sie das »Handlungskonzept gegen sexualisierte Gewalt im Zuschauer*innensport Fußball«.
Im Sommer 2020 fand ein vom Fanprojekt organisierter Vortrag innerhalb der aktiven Fanszene der BSG Chemie statt, bei dem eine der Initiatorinnen des Netzwerks, Antje Grabenhorst, das Konzept vorstellte. Die Veranstaltung im VIP-Zelt war gut besucht und es fand ein reger Austausch statt. Bereits während der Veranstaltung konnten viele Frauen das Gefühl nicht leugnen, wie viel Kraft es gibt, mit anderen Betroffenen in den Austausch zu kommen.
Im vorgestellten Konzept wurden vor allem Strategien dargelegt, wie im Fußball agierende Akteur:innen geschützt werden können. Dafür muss sich zunächst mit der Frage beschäftigt werden, was Sexismus und sexualisierte Gewalt sind. Sexismus im Fußball zeigt sich so beispielsweise »[…] anhand von Gesängen im Stadion, über sexistische Werbung, stereotypischer Erwartungshaltungen, Absprechen von Kompetenzen oder dem Ausschluss aufgrund des Geschlechts«. Zu sexualisierter Gewalt zählen »[…] verbale Übergriffe oder Gesten, zum Beispiel unerwünschte Berührungen oder körperliche Annäherungen, anzügliche Äußerungen über das Aussehen, Reduzieren auf Geschlecht und sexuelle Attraktivität, anzügliches Anstarren oder Hinterherpfeifen, das Zeigen pornografischer Inhalte, aber auch Entblößen, versuchte oder erfolgte Penetration, bis hin zu Vergewaltigung, d.h. das Erzwingen bestimmter sexueller Praktiken«.1
Um sich gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt zu stellen und Betroffenen den Rücken zu stärken, braucht es allerdings eine gewisse Grundhaltung. So sollte man betroffene Personen beispielsweise nicht als Opfer bezeichnen, um ihre Mündigkeit und Handlungsfähigkeit zu wahren und zu stärken. Weiterhin sollte jegliche Art von sexualisierter Gewalt abgelehnt und Wert auf präventive Arbeit und Sensibilisierung gelegt werden. Notwendig sind auch kompetente und erreichbare Ansprechpersonen, welche das Handeln an die Bedürfnisse der Betroffenen ausrichten.
Für die bereits genannte präventive Arbeit wurde für das Handlungskonzept eine Checkliste ausgearbeitet, welche Rahmenbedingungen absteckt und Handlungsansätze mitgibt. Ziel ist vor allem die »Vorbeugung sexualisierter Übergriffe durch Aufklärung, Sensibilisierung und Positionierung und die Vorbereitung auf den Umgang mit potenziellen Vorfällen«.
Aber auch Maßnahmen zur Intervention finden im Handlungskonzept ihren Raum. Um allen Personen im Fußballkontext Handlungssicherheit zu geben, wurden daher verschiedene Hinweise zusammengefasst, zum Beispiel eben, wie man mit Betroffenen umgehen sollte. Wer mehr erfahren möchte, sollte unbedingt hineinlesen!
Die Veranstaltung rund um das Handlungskonzept des Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt in Kombination mit dem vermehrten Austausch unter Frauen, die zum Zwecke des Buches zu »100 Jahre Alfred-Kunze-Sportpark« stattfand, haben den Handlungsimpuls bei einigen Chemiker:innen gesetzt, auch bei der BSG Awareness-Strukturen2 und Unterstützungsangebote für Betroffene zu installieren. Im Januar 2021 fand ein erstes Treffen statt, bei dem die Idee konkreter wurde. Bald schon vergrößerte sich die Gruppe und die Aufgabe, ein Selbstverständnis, an dem wir uns und unsere zukünftige Arbeit orientieren wollen, zu erarbeiten, stand an.
Das so erarbeitete Selbstverständnis stellt eine Grundlage für unser weiteres Handeln dar. Darin erläutern wir die Grundhaltung und Zielstellung der Gruppe, welche vor allem darin liegt, Sexismus und sexualisierter Gewalt entgegenzuwirken und bei übergriffigem Verhalten tätig zu werden. Außerdem beschäftigt sich die Gruppe damit, wie sich Sexismus und sexualisierte Gewalt im Stadion äußern. Der Wirkungsraum soll daher ein ganzheitlicher sein, das heißt, dass für die gesamte chemische Anhänger:innenschaft im Stadion ein sichererer Ort geschaffen werden soll. Handlungsräume sehen wir dabei gleichermaßen in der Prävention als auch in der Intervention. So kann präventive Arbeit beispielsweise durch Texte, Flyer, Vorträge oder Ausstellungen realisiert werden, während für die intervenierende Arbeit beispielsweise eine Awareness-Struktur erarbeitetet oder Ordner:innen und Stadionpersonal geschult werden können. Auch auf der strukturellen Ebene bestehen Möglichkeiten zum Handeln, so können auf Vereinsebene oder bei Mitgliederversammlungen weitere Prozesse in Gang gestoßen werden.
Das Er- und Ausarbeiten des Selbstverständnisses war insgesamt ein langer Prozess, da wir uns alle der immensen Wichtigkeit dieses Schrittes bewusst waren und gut vorbereitet an die Arbeit gehen wollten. Es war uns hierbei wichtig, Entscheidungen zu treffen, mit denen alle in der Gruppe einverstanden sind, um vertrauensvoll miteinander umgehen zu können und auch langfristig arbeitsfähig zu sein. Der Wunsch, alles richtig machen zu wollen und dem sensiblen Thema gerecht zu werden, hat dazu geführt, dass wir einige Stunden mit Diskussionen verbracht haben, bevor wir endlich voller Stolz und Freude sagen konnten: Das Selbstverständnis ist fertig. Der Arbeitskreis ist arbeitsfähig. Im nächsten Schritt haben wir uns den Gruppennamen »S.O.S. – Sportpark ohne Sexismus« gegeben und uns in verschiedene Kleingruppen aufgeteilt, um noch konkreter an den verschiedenen Themenfeldern Prävention, Intervention und Strukturarbeit arbeiten zu können. Es fühlt sich für alle am Prozess beteiligten Personen gut an, endlich ins aktive Arbeiten zu kommen und wir sind ganz gespannt, uns mit allen interessierten Chemiker:innen auszutauschen.
War in der ersten Auflage an dieser Stelle noch zu lesen, dass wir wohl bald auch im Stadion präsent und ansprechbar sein werden, lässt sich festhalten, dass wir das tatsächlich auch geworden sind. Am Ende der Spielzeit 2021/22 kam es zum ersten Kontakt mit dem Vorstand, der dem Projekt aufgeschlossen gegenüberstand, und uns auch die Möglichkeit gab, eine eigene Unterseite auf der vereinseigenen Homepage zu erhalten.3
Seit Beginn der Saison 2022/23 sind wir im AKS bei Heimspielen, aber auch zu Auswärtsspielen ansprechbar. Zu Heimspielen findet ihr uns am Übergang zwischen Dammsitz und Norddamm – dort sind wir durch die pinken Caps und Leibchen mit S.O.S Team plus Telefonnummer Aufdruck erkennbar. Zu Auswärtsspielen sind wir ebenfalls präsent, jedoch nicht so sichtbar.
An allen Spieltagen sind mindestens zwei Personen von uns direkt oder mittels Anruf erreichbar, um euch zu unterstützen, falls ihr von übergriffigem oder sexistischem Verhalten betroffen seid oder dergleichen wahrgenommen habt. Ebenso könnt ihr euch jederzeit bei uns über unsere Arbeit informieren, wenn ihr uns seht oder ihr schaut auf unsere Unterseite der Vereinshomepage:
Aktuell fehlt es uns an einer gewissen Wahrnehmbarkeit. Auch wenn wir zu Heimspielen sichtbar sein dürften, wissen wohl nur wenige, dass es uns und unser Angebot gibt. Alsbald wollen wir auch Vorträge anbieten und einen intensiveren Austausch suchen. Bisher fand dieser vorrangig mit dem Vorstand und innerhalb unserer Gruppe sowie mit unserem persönlichen Umfeld bei Chemie statt – hier haben wir verpasst, frühzeitig eine Veranstaltung zu machen, auf der wir uns und unser Vorhaben allen Interessierten vorstellen.
Dabei ist uns vor allem eines wichtig: Wir wollen Chemie für alle, die ein Teil unserer Familie sein wollen, zu einem sichereren Ort machen. Das geht nicht immer ohne Konflikte, auf jeden Fall soll es aber ohne erhobenen Zeigefinger gehen. Uns ist ein Begegnen auf Augenhöhe wichtig. Zugleich geht es auch darum, Vertrauen zu schaffen und zu etablieren. Eines soll und darf aber nicht aus dem Blick verloren werden: unsere BSG Chemie Leipzig.
Fußnoten
1 Das gesamte Handlungskonzept findet ihr zum Beispiel hier: https://www.fussball-gegen-sexismus.de/wp-content/uploads/2019/12/Brosch%C3%BCre_Handlungskonzept_Auflage_3.pdf
2 Awareness-Konzepte und -Strukturen (bei- spielsweise Ansprechpersonen oder -gruppen) wurden bislang hauptsächlich in Party- und Clubkontexten etabliert, um auf sexistische Vorfälle und Verhaltensweisen adäquat reagieren zu können und Betroffene zu unterstützen. Der Begriff leitet sich vom englischen Begriff »to be aware« ab und bedeutet so viel wie »sich etwas bewusst sein«, »sich informieren«. Awareness im Kontext von Awareness-Arbeit bedeutet das Vorhandensein eines Bewusstseins und die Wahrnehmung von verbalen, physischen und/oder psychischen Grenzüberschreitungen und daraus resul- tierend das Ableiten eines entsprechenden Handelns.
3 https://www.chemie-leipzig.de/awareness/