Die Idee, dass Fußball – auf dem Platz wie auf den Rängen – reine Männersache wäre, ist eng mit in der Gesellschaft fest verankerten, geschlechterspezifischen Rollen- und Wertevorstellungen verbunden. Wann eroberten also die ersten Frauen die Ränge aus ureigenem Interesse am Fußballsport? Das lässt sich kaum mehr nachvollziehen, denn aus den ganz frühen Jahren des Leutzscher Fußballs ist dazu kaum etwas überliefert. Einen Ansatz liefert die Arbeit des Zeithistorikers Rudolf Oswald, der zur Geschichte des Fußballpublikums geforscht hat. Es gibt zwar keine genauen Zahlen aus dieser Zeit, erklärt er in einem Interview mit dem Zeitspiel-Magazin, aber er schätzt den Frauenanteil in den 1920er Jahren in deutschen Stadien auf etwa zehn Prozent.
In der Regel sind die Frauen Oswald zufolge als Begleitung von Männern dorthin gegangen, ein Begegnungsort spezifisch für Frauen war das Stadion damals eher nicht. Der Frauenanteil dürfte auch nach dem Krieg bis in die 1950er Jahre zunächst in etwa stabil geblieben sein. Auf alten, vergilbten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der prall gefüllten Ränge des Leutzscher Sportparks früherer Zeiten sind zwischen all den Männern recht häufig auch Frauen zu finden. Auffällig aber ist, dass sie selten im Block oder in den hinteren Reihen, sondern meist in den ersten Reihen ganz vorn standen oder auf den Bänken am Spielfeldrand saßen. Unter ihnen waren zu dieser Zeit auch Ehefrauen von Spielern und Funktionären, die ihre Männer ins Stadion begleiteten. Doch dass Frauen ein »Anhängsel« ihres Mannes waren, änderte sich in den kommenden Jahren. Dabei spielte auch das Frauenbild der DDR und damit der Diskurs um die gesellschaftliche Stellung der Frau eine Rolle.
In den Jahrzehnten nach Kriegsende waren die Frauen als Arbeitskräfte wichtiger Bestandteil der nationalen Wirtschaft – insbesondere aufgrund der Flucht- und Abwanderungsbewegung bis zum Mauerbau. Die Gleichberechtigung der Frau war auch in der DDR-Verfassung explizit festgeschrieben (Art. 20, Abs. 2): »Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben die gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe.« Zwar geschah dies weniger zum Zweck der Emanzipation – in die politischen Führungsgremien der DDR schafften Frauen es zum Beispiel nur selten, – sondern eher aus politischen, wirtschaftlichen und demografischen Gründen.
Dennoch ermöglichte die sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR den Frauen größere ökonomische und soziale Teilhabe als die eher konservative Nachkriegsordnung der BRD. Es gab nur wenige Frauen, die als Hausfrauen zu Hause blieben, während der Mann der alleinige Versorger war. Sie konnten und sollten – ganz im Gegenteil – selbst arbeiten gehen und studieren. Und diese gesellschaftliche Stellung der Frau spiegelte sich auch im Fußball und auf den Rängen wider.
Connie hat das Stadion Ende der 1970er Jahre zum ersten Mal betreten. Sie war Schülerin und der Stadionbesuch eine reine Protesthandlung: Die Jungs der Klasse gingen zum Stadtrivalen Lok, also sind die Mädchen am Tag eines Derbys eben zu Chemie gegangen. »Das war im Zentralstadion«, erinnert sie sich. »Und dann gab es auch Randale, die ganzen Bänke wurden kaputtgetreten und das fanden wir irgendwie total spannend.« Die 1970er Jahre sind eine Zeit, an die Heidrun und Birgit sich gern zurückerinnern. Beide gehen – mit Unterbrechungen – seit 1974 zu Chemie und sind auch beinahe genauso lange Teil des »Fanclub Delitzsch«. Im Sportpark waren sie quasi stets umzingelt von Männern, erzählen sie. Doch die einzigen Frauen sind sie nicht gewesen. Denn vereinzelt haben sich auch damals schon hier und da andere Frauen in den damaligen Georg-Schwarz-Sportpark gewagt. »Und es ist einem ja auch keiner blöd gekommen so als Mädchen«, ergänzt Birgit. Meistens jedoch, so erinnern sie sich, haben die Frauen damals noch häufig als »Anhängsel« ihre Männer begleitet. Heidrun selbst war hier eine Ausnahme: Sie hat ihre Eltern lange gebeten, ins Stadion gehen zu dürfen wie ihr Bruder einige Jahre zuvor. Der weckte nämlich das Interesse in ihr, den Sport, für den sie ebenfalls eine Leidenschaft verspürte, genau wie er vor Ort im Stadion anzuschauen. Und mit 15 Jahren durfte sie endlich: »Da habe ich mich dann ganz alleine auf den Norddamm gestellt.« Die beiden Chemikerinnen haben schon in diesem jungen Alter regelmäßig Auswärtsspiele besucht, erzählen sie. Zusätzlich sind sie sogar zu den Spielen der zweiten Mannschaft gefahren. Einfach nur, weil sie die BSG Chemie Leipzig möglichst oft spielen sehen wollten. »Also das habe ich geliebt.
Doch die beiden sagen auch klar, dass es damals nur wenige Frauen wie sie gab. Ein paar Jahre später war auch Petra eine von ihnen. Sie ist seit Ende der 1970er Jahre Chemie-Fan. Schon als Jugendliche sei sie in den Sportpark gekommen, sagt sie, und auch damals sei sie schon mit dem Zug zu Auswärtsspielen gefahren. »Hauptsächlich mit Jungs.« Für sie sei das eine intensive Zeit gewesen und der Alfred-Kunze-Sportpark heute ein Ort zum Genießen und Erinnern.
Er ist ihr Symbol für Freiheit und Lebensfreude, sagt sie: »Ein Ort, wo Leute zusammenkommen und ihre Begeisterung ausdrücken und für die gleiche Sache einstehen, egal, ob Mann oder Frau.« Diese Erinnerung teilt sie mit Connie. Auch sie sagt, dass es besondere Momente gegeben habe, in denen wirklich egal gewesen sei, ob Frau oder Mann: »Wenn sie mit den Spielern, die eigentlich Außenseiter waren, doch gewonnen haben. Diese Momente waren wirklich besonders.« Der Georg-Schwarz-Sportpark als Ort der frühen Gleichstellung also? Ganz so war es natürlich nicht. »Gerade was die früheren Zeiten anbelangt, da ist man gar nicht so gesehen worden«, sagt etwa Chemikerin Benita. Schon als Kind hatte sie ihr Vater mit ins Stadion genommen. Als Jahrgang 1976 war sie in den 1980er Jahren ein junges Mädchen. Wenn sie sich erinnert, klingt das nicht ganz so rosig: »Da waren wir oftmals so ein Anhängsel. Man wurde eben mitgebracht.« Trotzdem: Bockwurst und rote Brause hat sie aus ihrer Kindheit in wohliger Erinnerung.
Generell sei die Zahl der Frauen im Stadion in dieser Zeit noch immer recht gering gewesen. »Wenn man sagte, man fährt zum Fußball, das war eher die Ausnahme«, erzählt sie. Damals sei ihr das gar nicht groß aufgefallen. Sie habe sich nicht mit anderen Frauen ausgetauscht, die auch in den Georg-Schwarz-Sportpark gegangen sind, sondern sei in ihrem (männlichen) Freundeskreis geblieben. Erst viel später habe sie das reflektiert und gedacht: »Mensch, irgendwie warst du immer die einzige.« So wie ihr dürfte es wohl noch so einigen Chemikerinnen in den 1980er Jahren gegangen sein. Gegen Ende des Jahrzehnts änderte sich nicht nur politisch im Zuge der Friedlichen Revolution so einiges. In den Wirren der Wendejahre gab es überall in der Stadt ganz andere Möglichkeiten und Freiheiten, denen man sich widmen konnte, erinnert sich Connie an diese Zeit. Sie sei deshalb damals kaum mehr im Stadion gewesen. Dennoch gab es natürlich auch zu Wendezeiten und in den folgenden »wilden« 1990er Jahren Frauen im Stadion. Darunter waren einige auf den Rängen, die ihrem geliebten Verein weiterhin die Treue hielten und zum Fußballschauen kamen und andere, die eine ganz andere Rolle spielten. Denn in den folgenden Jahren entdeckte der inzwischen zum FC Sachsen Leipzig umbenannte Verein junge Frauen als hilfreiches Instrument für Entertainment-Zwecke, die vor allem die Herren unterhalten sollten. Und so tanzten junge, attraktive Frauen als Cheerleaderinnen in kurzen Röcken über den Platz oder wurden beim Bodypainting in nichts als die Vereinsfarben gekleidet. In der Bild-Zeitung legte eine junge Frau für jedes Tor des FC Sachsen Leipzig ein Kleidungsstück ab. Insgesamt war diese Zeit also von zahlreichen sexistischen Stereotypen geprägt. Die sportliche Tristesse auf dem Rasen des Sportparks Ende der 1990er Jahre traf auf ein Rollenbild, das Frauen weitgehend als Marketing-Objekt zum Anlocken männlicher Zuschauer verstand. »Also, das war halt nicht witzig, was da abging«, erinnert sich Benita.
Und so wundert es kaum, dass auch sie in dieser Zeit weniger Interesse daran hatte, den Sportpark zu besuchen. Diese Entwicklung setzte sich auch in den 2000er Jahren noch etwas weiter fort. Deutlich zu sehen war das beispielsweise am Sortiment des Fanshops: Dort wurden zum Beispiel String-Tangas – also sehr knappe Unterhöschen – mit der Aufschrift »Mach dein Spiel, Chemiker« verkauft. Noch zu dieser Zeit waren also auch offizielle Vereinsprodukte durch die Objektifizierung von Frauen geprägt. Mit dem Aufkommen der Ultra-Bewegung in den 2000er Jahren und befeuert durch den Umzug des FC Sachsen Leipzig in das Zentralstadion füllten sich die Ränge wieder deutlicher und insbesondere junge Frauen entdeckten den Fußball mehr und mehr für sich. Dabei hat auch die eher links-alternative politische Haltung der Ultras und ihres Umfeldes geholfen, den Raum Stadion einladender für Frauen zu machen. Im Gegensatz zu den bisherigen Fanclubs hatten und haben die Ultras einen anderen, emanzipatorischeren Anspruch an ihr Fan-Dasein: Das Engagement in und für Kurve und Verein sollte deutlich wichtiger sein als herkömmliche Kategorien wie etwa das Alter einer Person.
Dennoch mussten sich die jungen Chemikerinnen auch in dieser Zeit gegen die männliche Hegemonie zur Wehr setzen, um ihren gleichberechtigten Platz in der Kurve und der Ultra-Bewegung einzufordern. Trotz der Tatsache, dass sie sich zum Beispiel in gleichem Umfang an der Produktion von Fahnen und Choreografien beteiligten oder sogar selbst für den Verein Fußball spielten, wurden sie von den Männern der Gruppen und anderen Fans nicht als komplett gleichberechtigt wahrgenommen. Stattdessen waren sie für einige der männlichen Mitstreiter vielmehr Objekt des emotionalen oder gar sexuellen Interesses. Das führte kurzzeitig sogar dazu, dass den jungen Frauen verboten wurde, das Fanprojekt-Gebäude zu besuchen – damals der zentrale Treffpunkt der Ultras, an dem sich ein großer Teil des Gruppenlebens abspielte. Sie würden »zu viel Unruhe hereinbringen«, war eine typische Aussage für diese Zeit. Doch so leicht ließen sie sich nicht abwimmeln. Die Jungs mussten ihre Anwesenheit wohl oder übel akzeptieren und über die Jahre lernen, sie als gleichwertige Mitstreiterinnen für die gemeinsame Sache zu akzeptieren. Sie seien oft nicht ernst genommen worden, reflektieren sie heute. »Das war ein Prozess«, sagt etwa Verena. Heute gehört sie zu den führenden Köpfen in der aktiven Chemie-Fanszene. »Das war damals noch nicht so und ich bin mit der Entwicklung mitgewachsen«, sagt sie.
Die jungen Frauen berichten darüber hinaus auch davon, wie sie sich selbst in ihrer Rolle emanzipieren und verinnerlichte patriarchale Denkmuster ablegen mussten. Nachdem sie sich ihren Platz in der Kurve mühselig erarbeitet hatten, gab es eine Zeit, in der sie meinten, diesen Status auch anderen Frauen gegenüber verteidigen zu müssen. Ironischerweise spielten dabei auch zusätzlich dieselben sexistischen Vorurteile eine Rolle, die häufig auch Männer gegenüber Frauen beim Fußball hegen. Also zum Beispiel, dass die Frauen und Mädchen vor allem auf der Suche nach romantischen Kontakten zu den Männern auf den Rängen oder dem Platz sind und sich eigentlich nicht primär für das Spiel interessieren würden. So hat es vor Jahren noch skeptische Blicke gegeben, wenn neue Mädchen im Stadion aufgetaucht sind – heutzutage kaum mehr denkbar. Denn natürlich gibt es weder einen Wettbewerb noch begrenzte Plätze für Frauen. Heute freue sie sich eher über neue Frauen im Stadion, sagt etwa Chemikerin Clara. Sie würden sich heute gegenseitig unterstützen und fördern, erzählen die jungen Frauen. Es ist eine neue Selbstverständlichkeit eingezogen auf den Rängen des Alfred-Kunze-Sportparks.
Das freut auch die älteren Chemikerinnen. Benita erzählt begeistert davon, dass es heute nicht nur generell mehr Frauen sind, sondern »verändert hat sich die Anzahl der Frauen, die auch eine Stimme haben. Gerade bei den Ultras! Wenn du da siehst, wie viele Mädels da am Start sind, das finde ich großartig.« Und Benita sieht auch viele ältere Frauen, sagt sie: »Also die noch älter sind als ich. Das finde ich sehr sympathisch.« Heidrun ist eine dieser Frauen und auch sie sieht es positiv, nicht mehr eine von nur wenigen Frauen unter Männern zu sein. Sie betont, dass sie sich im Sportpark früher wie heute sicher gefühlt hat und immer noch fühlt. Leutzsch, das sei ihr zweites Zuhause, sagt sie. »Wo ich mich halt wohl fühle.« Und mit ihr zunehmend mehr Frauen und Mädchen.