Klar gibt’s Frauen bei Chemie: sie sind im Stadion als Fans präsent, sie repräsentieren den Fanshop, sitzen an den Ticketschaltern, scannen die Eintrittskarten, machen bei der Fanbetreuung mit, helfen in der Geschäftsstelle beim Sortieren der Rechnungen. Das ist super, das ist gut. Allerdings fehlen sie in der Chefetage des Vereins völlig. Weder im Vorstand, noch im Aufsichtsrat, weder in der Geschäftsstelle noch in der sportlichen Leitung sind Frauen in irgendeiner Leitungsposition. Das ist so auffällig, das es wehtut. Das sei aber auch normal, sagen die meisten und zucken mit den Schultern. Ein strukturelles, ganz grundsätzliches Problem, das nicht von einen auf den anderen Tag verändert werden kann. Warum sollte etwas im Kleinen funktionieren, was nicht einmal in den großen gesellschaftlichen Ebenen so richtig klappt. So könnte man diesen Text unbeeindruckt beenden, auch des lieben Friedens willen.
Man könnte aber auch versuchen, genauer hinzuschauen. Und sich Fragen stellen. Dafür muss gar nicht spitzzüngig oder polemisch die Metapher der »alten (und jungen) weißen Männer« bemüht und tiefgründig über geschlechterspezifische Machtverhältnisse theoretisiert werden. Es braucht auch kein Studium der Gender Studies, um diesen Missstand zu erkennen. Es reicht eigentlich, mit offene Augen durchs Stadion zu gehen. Es reicht sich die Fakten anzuschauen: Mitgliederzahlen in Bezug auf das Geschlecht, die sehr überschaubare Zahl von Spielerinnen und Trainerinnen, die Förderung von Mädchenfußball im Nachwuchs oder das prozentuale Verhältnis von Frauen in den Gremien usw.
Auffällig ist also die geringe Anzahl von Frauen, die den Verein mitgestalten, ihn mit Leben erfüllen und somit maßgeblich tragen. Auffällig sind aber auch die Bereiche, in denen sie – haben sie sich dann doch festgebissen – wirken: auch hier greifen klassische Mechanismen der Geschlechterungerechtigkeit. Denn Frauen bei Chemie, das bedeutet zumeist die klassische Abdeckung der sozialen Felder: man findet sie eben hinter der Theke, am Büroschreibtisch, beim Ticketing, den Fanordnern und der »Zuarbeit«. An den strategischen, an den wichtigen und damit einflussreichen Stellen sitzen bei Chemie nur Männer. So ist das.
Auch (sport)historisch sind Frauen innerhalb der BSG quasi nicht existent. Der Verein, der soviel Wert auf seine Tradition, seine Klassenzugehörigkeit, seine Werte und seine Haltung legt, hat Frauen in seiner Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigt. Aus der Initiative von Waltraud Horn, ihren Mitspielerinnen und dem Betreuer Karl-Heinz Baumgart hätte man Bücher füllen können. Sie war Vorantreiberin des grün-weißen Frauenfußballs und hat die BSG an die Spitze der obersten Spielklasse der DDR geführt, sie forderte auch sportpolitisch und an den höchsten Stellen immer wieder ein, dem Frauenfußball gleiche Bedeutung wie den Männern zukommen zu lassen. An ihr Engagement, an ihre Rolle im Verein und an ihr Wirken wird in kaum einer der endlos vielen Publikationen und Veröffentlichungen rund um die BSG gedacht. Und dabei wäre sie nur ein Beispiel von vielen erzählenswerten Frauen, die im Laufe der Jahrzehnte dem Verein ihren Stempel aufgedrückt haben.
Ein wenig eigenartig wirkte es Mitte 2021 dann doch, als sich der Präsident des Nordostdeutschen Fußballverbandes Hermann Winkler an die Spitze der Gleichberechtigungsbewegung im deutschen Fußball stellte und voller Ernsthaftigkeit und Wokeness verkündete, dass mit Elfie Wutke nun auch endlich eine Frau mit an der Führungsspitze des Verbandes stünde. Er selbst habe sich – quasi staatsmännisch – dafür stark gemacht, sie als Vize einzusetzen. Dabei ist das Vorgehen des NOFV hier exemplarisch: mit dem Feigenblatt-mäßigen Installieren von Frauen versucht man Gutes zu tun. Allerdings ist »Gut gemeint« manchmal das Gegenteil von Gut. Denn anstelle symbolischer Akzente, wie dem gelegentlichen Installieren einiger weniger Frauen, bräuchte es viel grundlegendere Maßnahmen, um echte Akzeptanz auf Augenhöhe zu etablieren.
Insofern liest sich auch das Narrativ weiblicher Funktionärstätigkeit wie ein ständiger Kampf gegen Windmühlen. Bereits in den frühen 1970ern – der DFB-Bundestag hatte gerade beschlossen, den Frauenfußball in der Bundesrepublik zuzulassen1 – hinkte man quasi meilenwert hinterher. Zwar wurde mit Hannelore Ratzeburg die erste Referentin für Frauenfußball gekürt, die es dank ihrer Hartnäckigkeit später sogar bis ins DFB-Präsidium schaffte. Und sicherlich kann man von Katja Kraus vom FSV Frankfurt bis zu Steffi Jones auch irgendwie eine kleine »Erfolgsgeschichte« von Frauen in Leitungspositionen konstruieren. Letztlich bleibt es aber doch eher bei recht marginalen Erzählungen. Erst im Sommer dieses Jahres veröffentlichten neun namhafte »Fußballfrauen« eine scharfe Kritik an den Verbandsstrukturen im deutschen Fußball und forderten einen ernsthaften Umbruch, auch und gerade in den Fragen der Geschlechtergleichheit: »Ein System wird nicht von denjenigen verändert, deren Macht es stützt«2, schrieben damals u.a. Almuth Schult, Bibiana Steinhaus, Claudia Neumann, Gaby Papenburg und Helen Breit.
Ihre Forderung hatte wenig revolutionäres – viel eher ging es um eine ganz grundsätzliche Basisbanalität: »Wir alle sind als Kommentatorin, aktive Fußballspielerin und Mutter, Aufsichtsratsvorsitzende, Schiedsrichterin, Vorstandsmitglied, Fanvorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Exotinnen gewesen, oder sind es noch. Unser Anliegen ist es, dass es alsbald deutlich mehr Frauen in allen Bereichen des Fußballs gibt, die in Spitzenpositionen wirken und ein gerechtes und zeitgemäßes Bild des Fußballs zeichnen«. Zwar wurde der Brief breit und wohlwollend auf den Sport- und Feuilletonseiten im Land diskutiert – in den Verbänden selbst hat er kaum zu wahrnehmbaren Veränderungen geführt.
Und natürlich haben diejenigen völlig Recht, die sagen, dass der illustrierte Zustand kein reines Problem in Leutzsch ist. Das Thema ist ein Fußball-immanentes. Es betrifft nahezu jeden Verein, egal ob Landes- oder Bundesligist. Und während sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – manchmal nur im Kleinen, viel öfter aber auch im Großen – die Dinge in Sachen Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen ändern, tritt man im Fußball immer noch hart auf die Bremse. Getrost lässt sich feststellen: Die These von der Modernisierung der Gesellschaft hinsichtlich Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung hinkt in Fußballclubs nicht nur hinterher oder kommt als nachholende Entwicklung ein wenig verspätete an Ziel, sie findet dort (fast) nicht statt.
Und natürlich hat das viel mit der Macht der Gewohnheit zu tun. Aber eben auch mit der jahrzehntelangen Dominanz von Männern, sowohl in den sportlichen als auch in den organisatorischen Bereichen. Für Antje Hagel vom Netzwerk F_in bedeutet das erstmal nichts Neues: »Männlichkeiten werden halt auch beim Fußball abgebildet«3, sagt sie und verweist vor allem auf die Kontinuität des »Immergleichen«. Ähnlich äußert sich auch Hannelore Ratzeburg, eine der wenigen Funktionärinnen im größten Sportverband des Landes: »Der DFB hat ein Problem damit, Positionen mit Frauen zu besetzen. Wir brauchen Vorbilder, auch auf der Funktionärsebene«4. Das sei es ein »dickes Brett«, denn die Sache bedeutet auch »Strukturen zu überdenken«. Dabei ist die Tatsache, dass sich der Fußball so vehement gegen Frauen in Führungspositionen stemmt, regelrecht dumm. Die erst kürzlich erschienene Studie »Frauenkarrieren in der Sportbranche« hat neben der krassen Unterrepräsentation von Frauen auch nachgewiesen, dass divers besetzte Teams und Führungsetagen viel professioneller und ökonomischer agieren. Insbesondere dann, wenn es um neue Impulse, Veränderungen und Verbesserungen geht.
Damit sich wirklich etwas ändert, braucht es Druck von unten. Eben weil sich da oben von allein nichts tut. So funktioniert Veränderung, das hat die Geschichte – auch die der Geschlechterbilder – bewiesen. Insofern ist die Zeit reif, nicht um Posten zu bitten oder diese »nett anzufragen«. Es wäre das Normalste der Welt, dass die Gremien halbwegs paritätisch den Verein nach außen darstellen.
Nähme sich die BSG Chemie wirklich in ihrem Leitbild und ihrer selbst aufgestellten Satzung ernst, dann wäre die offensichtliche Schieflage schon lange problematisiert worden. Was nützt die der Satzung vorangestellte Präambel und das Bekenntnis zur »geschlechtlichen Gleichstellung«, wenn es keine Praxis dazu gibt. Und ja, es stimmt: Veränderung ist manchmal anstrengend. In diesem Falle würde die Anstrengung aber sicher lohnen. Ein erster Schritt für mehr geschlechtliche Vielfalt in der Vereinsführung wäre die Anerkennung einer erheblichen Schieflage. Und – damit verbunden – das Bekenntnis, die Dinge praktisch anzugehen. Zum Beispiel, indem man Rahmenbedingungen schafft, die Frauen das Mitmachen erleichtern. Zum Beispiel, indem Frauen ermuntert und angesprochen werden Ämter und Funktionen zu übernehmen. Indem man sie – wenn nötig – »fit macht« und qualifiziert. Indem man – auch das kann mal gesagt werden – als männliche Führungskraft ein stückweit zur Seite rückt, um ganz bewusst die einseitige Geschlechterhegemonie »aufzuweichen«. Möglichkeiten gibt es also genug – es mangelt nicht an den »bereitstehenden Frauen«, sondern am Bewusstsein und an der Bereitschaft, die Defizite wirklich anzugehen.
Fußnoten
1 Während in der Bundesrepublik ein jahrzehntelanges Fußballverbot für Frauen herrschte, weil man »Schäden für Körper und Seele« befürchtete und »Schicklichkeit und Anstand« in Gefahr sah, existierten in der DDR Frauenteams seit den 1950er Jahren. Gefördert wurde der Frauenfußball allerdings auch hier nicht.
2 Positionspapier »Fußball kann mehr – acht Forderungen für mehr Frauen im Fußball«, zit. n.: https://www.f-in.org/f-in-aktuell/fu%C3%9Fball-kann-mehr-1/
3 Antje Hagel u.a.: gender kicks. Texte zu Fußball und Geschlecht. KOS-Schriften 10. Frankfurt am Main 2005.
4 Spiegel-Online v. 21. März 2021.